Paul-Ehrlich-Institut

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Erstes Gentherapeutikum gegen Hämophilie B erhält Zulassungsempfehlung

Der für die Bewertung von Gen-und Zelltherapien zuständige Ausschuss für neuartige Therapien (Committee for Advanced Therapies, CAT) bei der Europäischen Arzneimittelagentur (European Medicines Agency, EMA) hat am 09.12.2022 für das Gentherapeutikum Hemgenix (Etranacogene Dezaparvovec) der CSL Behring GmbH die Empfehlung für eine bedingte Zulassung zur Behandlung von Erwachsenen mit schwerer und mittelschwerer Hämophilie B, die keine Faktor-IX-Inhibitoren haben, ausgesprochen. Faktor-IX-Inhibitoren sind vom Immunsystem gebildete Antikörper, die die Wirksamkeit von Faktor-IX-Medikamenten verringern. Die Empfehlung des CAT wurde vom Ausschuss für Humanarzneimittel (Committee for Medicinal Products for Human Use, CHMP) am 15.12.2022 bestätigt. Es handelt sich um das erste Gentherapeutikum zur Behandlung der Hämophilie B, für das in der EU eine Zulassungsempfehlung ausgesprochen wird. Die finale Entscheidung für eine Zulassung hat die Europäische Kommission am 20.02.2023 getroffen.

Erythrozyten (Quelle: qimono/pixabay.com)

Schätzungsweise 1 von 20.000 bis 50.000 Männern von Hämophilie B betroffen

Die Hämophilie B ist eine seltene Form der sogenannten Bluterkrankheit und tritt aufgrund der zugrundeliegenden Genetik fast ausschließlich bei Männern auf. Weil das Faktor-IX-Gen bei Betroffenen defekt ist, kann kein funktionsfähiges Faktor-IX-Protein gebildet werden. Das Protein wird zur Bildung von Blutgerinnseln benötigt, um Blutungen zu stoppen. Länger andauernde Blutungen bei Patienten mit Hämophilie B können zu schwerwiegenden Komplikationen führen, z. B. zu Blutungen in Gelenken, Muskeln oder inneren Organen, einschließlich des Gehirns. Die Häufigkeit wird im männlichen Geschlecht auf etwa 1 von 20.000 bis 50.000 Personen geschätzt. Die Behandlung besteht bisher in der Substitution (dem Ersatz) des fehlenden Gerinnungsfaktors IX, was lebenslange Injektionen erforderlich macht.

Fehlendes Faktor-IX-Gen wird in die Leberzellen transportiert

Hemgenix (Etranacogene Dezaparvovec) ist die erste Gentherapie zur Behandlung der Hämophilie B im EU-Zulassungsverfahren. Der Wirkstoff des Gentherapie-Arzneimittels Hemgenix ist ein AAV-Vektor (vermehrungsunfähiges Adeno-assoziiertes Virus, AAV), das sich im menschlichen Körper nicht vermehrt und das Gen mit dem Bauplan für die Bildung des Faktor-IX-Proteins auf einige wenige Körperzellen überträgt. Die Körperzellen, in die das Faktor-IX-Gen übertragen wurde, bilden das Faktor-IX-Protein und geben Faktor IX in die Blutbahn ab. Die Gentherapie zielt darauf ab, nach einmaliger intravenöser Gabe das Faktor-IX-Gen in die Leberzellen eines Patienten einzubringen, um so ausgehend von der übertragenen, funktionsfähigen Kopie des Gerinnungsfaktorgens gebildetes Faktor-IX-Protein zur Verfügung zu stellen. Dies trägt dazu bei, dass Blutungen verhindert oder Blutungsepisoden verringert werden.

CAT-Empfehlung stützt sich auf zwei klinische Prüfungen

Die Zulassungsempfehlung des CAT stützt sich auf die Ergebnisse zweier prospektiver, offener, einarmiger Einzeldosisstudien, an denen 57 männlichen Patienten mit mittelschwerer oder schwerer Hämophilie B teilgenommen haben. Die Blutungsraten sanken von 4,19 auf 1,51 Blutungen pro Jahr und die meisten Patienten (96 %) benötigten keine Faktor-IX-Ersatztherapie mehr. In der ersten Studie blieben die positiven Behandlungseffekte bei den drei Patienten bis zu drei Jahre nach der Infusion erhalten. In der zweiten Studie hielten die positiven Behandlungseffekte bei den 54 Patienten bis zu zwei Jahre nach der Infusion an. Es ist noch nicht bekannt, wie lange die Vorteile dieser einmaligen Behandlung anhalten werden. Die mit Hemgenix behandelten Patienten werden daher 15 Jahre lang nachbeobachtet, um die langfristige Effektivität und Sicherheit dieser Gentherapie zu überwachen.

Die Mehrzahl der in den klinischen Prüfungen beobachteten unerwünschten Nebenwirkungen wurde als leicht eingestuft. Eine Erhöhung der Leberwerte ist eine aus klinischen Studien bekannte häufige Nebenwirkung von AAV-basierten Gentherapien. Ein Anstieg der Leberenzyme zeigt eine beginnende Leberschädigung an und wurde nach Infusion von Hemgenix beobachtet. Sie kann erfolgreich mit Kortikosteroiden behandelt werden. Weitere häufige und vorübergehende Nebenwirkungen sind Kopfschmerzen und grippeähnliche Symptome.

Hintergrund – Bedingte Zulassung

Wenn das klinische Datenpaket nicht als vollständig (comprehensive) betrachtet wird, diese Daten aber nach Zulassung komplettiert werden können, ist die bedingte Zulassung (Conditional Marketing Authorisation, CMA) eine Möglichkeit, bei einem medizinisch dringend benötigten Arzneimittel den Marktzugang zu erlauben. Der europäische Rechtsrahmen sieht die Möglichkeit der bedingten Zulassung für Arzneimittel vor, wenn ein ungedeckter medizinischer Bedarf (unmet medical need) besteht, der durch das neu zugelassene Arzneimittel gedeckt wird, es um die Behandlung oder Vorbeugung von lebensbedrohlichen oder stark beeinträchtigenden Krankheiten geht und die sofortige Verfügbarkeit des Arzneimittels das Risiko aufwiegt, dass aufgrund fehlender Teilinformation zum Zeitpunkt der bedingten Zulassung bestehen könnte. Hierbei muss sichergestellt sein, dass der Zulassungsinhaber in der Nachzulassungsphase zusätzliche Daten vorlegen kann, die geeignet sind, die bisher als unvollständig (non-comprehensive) erachteten klinischen Daten zu ergänzen, um die bedingte in eine volle Zulassung zu überführen.

Hintergrund – CAT

Der CAT bei der EMA-Geschäftsstelle beurteilt die Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit von Arzneimitteln für neuartige Therapien (Advanced Therapy Medicinal Products, ATMPs). Der Ausschuss setzt sich aus Expertinnen und Experten der Arzneimittelbehörden der EU-Mitgliedstaaten auf dem Feld der ATMPs – also Gentherapeutika, Zelltherapeutika und biotechnologisch bearbeitete Gewebeprodukte – zusammen. Das Paul-Ehrlich-Institut ist Mitglied im CAT vertreten durch Dr. Jan Müller-Berghaus, seinem Stellvertreter Dr. Egbert Flory sowie Dr. Martina Schüßler-Lenz, Vorsitzende des CAT.

Aktualisiert: 20.02.2023